Das Jahr 1933 aus jüdisch-regionaler Perspektive
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Vorbemerkungen
Im Jahr 1933 kam es zur Machtübernahme der Nationalsozialisten. Innerhalb weniger Monate wurde die ganze Gesellschaft radikal umgestaltet. Es war ein Weg in die Diktatur, der Beginn einer 12-jährigen Schreckensherrschaft. Sie mündete in den Zweiten Weltkrieg und in die Vernichtung von sechs Millionen Juden. Auch heute, fast 90 Jahre später, ist es noch immer schwer zu begreifen, wie es dazu kommen konnte.
Wir möchten heute versuchen, diesen Umbruch aus einer regionalen Perspektive nachzuzeichnen. Was geschah in Eschwege, in den Landkreisen Eschwege und Witzenhausen? Und was bedeutete dieser Machtwechsel besonders für Jüdinnen und Juden?
Das Ende der Demokratie
Kein Umbruch kommt aus heiterem Himmel. Es gibt Entwicklungen, die ihn vorbereiten und oft erst im Nachhinein als solche erkannt werden. Deshalb blicken wir, bevor wir auf das Jahr 1933 selbst schauen, zuvor kurz zurück in die zwanziger Jahre, in die Zeit der „Weimarer Republik“. Und am Ende möchten wir mit Ihnen natürlich auch bedenken, wie wir uns heute zu dieser Zeit verhalten können, was wir daraus vielleicht für unser Handeln lernen können.
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Juden in den Landkreisen Eschwege und Witzenhausen sowie in Sontra und Diemerode
Wie war die Situation der Juden in den Landkreisen Eschwege und Witzenhausen? In unserer Region lebte seit dem 17. Jahrhundert eine starke jüdische Minderheit. 1933 waren es noch mehr als 1.000 Menschen. Die größten Gemeinden: In ESW, WIZ, Abterode, Reichensachsen und Sontra. Den höchsten Bevölkerungsanteil mit fast 11% in Abterode. Diese Karte zeigt, dass sich die Gemeinden überwiegend im Südteil des heutigen WMK befanden.
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Jüdische Emanzipation
Es finden sich viele Beispiele für eine gelungene Integration und für ein gutes Miteinander.
+ Moses Oppenheim war, wie die: „Jüdische Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck“ vom 10. Juni 1927 vermeldet, nicht nur Vorbeter in seiner jüdischen Gemeinde Abterode, sondern auch Gemeindeverordneter.
+ Albert Pfifferling war im Jahr 1913 aktives Mitglied der Feuerwehr Datterode
+ Bei der Einweihung des Kriegerdenkmals in Eschwege am 24.6.1928 hielt nach Kreispfarrer Clermont der Kreisrabbiner Dr. Heinrich Baßfreund für den erkrankten katholischen Pfarrer die Weiherede. Er erinnerte daran, dass „unsere gefallenen Helden einmütig zusammengestanden haben“, und zog daraus den Schluss: „Wenn wir einig sind, kann unser Vaterland nicht untergehen, und aus dieser Einigkeit werden die sittlichen Kräfte erwachsen, die notwendig sind, uns einer besseren Zukunft entgegen zu führen.“
+ Im Jahr 1917 werden jüdische und christliche Schulkinder gemeinsam mit ihren Lehrern fotografiert.
+ Gumpert Bodenheim gründete 1853 in Allendorf an der Werra eine Papierwarenfabrik, die bald zu europäischer Geltung aufstieg. Sein Sohn Benjamin und danach dessen Sohn Rudolf führten den Betrieb fort, bis er 1928 in andere Hände überging.
Rudolf Bodenheim war auch Mitglied im „Stern-Club“. Dies war ein Männerclub aus der Oberschicht Allendorfs und Soodens, der sich seit dem Ersten Weltkrieg wöchentlich einmal traf und dabei eine Anwesenheitsliste führte. Rudolf Bodenheim war von der Gründung 1916 an bis 1938 dabei. Seine letzte Teilnahme ist am 14. November 1938, wenige Tage nach der sogenannten „Reichskristallnacht“. + 1943 im KZ Theresienstadt.
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Wirtschaftskrise und hohe Arbeitslosigkeit
Nachdem im 19. Jhdt. viele diskriminierende Bestimmungen aufgehoben worden waren, haben viele Juden die neuen Möglichkeiten genutzt und in der Wissenschaft, in der Kultur und vor allem in der Wirtschaft bedeutende Leistungen erbracht. Ein Beispiel:
+ Strick- und Wirkwarenfabrik Brinkmann: Größter Arbeitgeber in ESW mit ca. 1.000 Beschäftigten. Kein Sonderfall:
+ Von den 1.300 Personen, die 1933 in der Eschweger Industrie beschäftigt waren, arbeiteten 1.084 in Betrieben, die in jüdischem Besitz waren (ca. 80%). Auch der überwiegende Teil der Geschäfte am Stad war im Besitz jüdischer Familien. Das hat Neidgefühle geweckt!
+ Hinzu kam die Ende 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise. Sie führte auch in Eschwege zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit. Weite Kreise der Bevölkerung gerieten in Not. Das war der Nährboden für den Aufstieg der NSDAP.
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Aufstieg der NSDAP
+ Wahlergebnisse: Die NSDAP erreichte bei der Reichstagswahl am 14. September 1930 in Eschwege 15,8% der Stimmen. Bei der Reichstagswahl am 31.07.1932 konnte sie ihr Ergebnis mit 43,5% fast verdreifachen. Bei einer weiteren Reichstagswahl am 5. März 1933 erreichte sie im Landkreis Eschwege sogar 55,5% der Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung von 91,9%).
Welche Positionen vertrat die NSDAP im Blick auf die Juden?
+ Parteiprogramm 1920
+ Mein Kampf 1926
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Wachsender Antisemitismus
Der Antisemitismus war schon im 19. Jahrhundert in der Region weit verbreitet. Er konnte anknüpfen und aufbauen auf den Antijudaismus, der sich wie ein schleichendes Gift durch die Geschichte zieht. Doch gegen Ende der Weimarer Republik nahm der Antisemitismus noch einmal zu. Dies verdeutlichen zwei Zeitungsanzeigen:
+ Im „Eschweger Tagblatt“ vom 08.09.1930 erschien ein Aufruf gegen den Antisemitismus: „An das deutsche Volk!“
+ In der „Hessischen Volkswacht“ vom 27.01.31 war behauptet worden, die Firma Brinkmann habe nationalsozialistische Mitarbeiter unter Druck gesetzt und bzw. diskriminiert. Sie werden mit einer „Berichtigung“ am 28.01.31 als unwahr zurückgewiesen. Die Vorstände der Firma beklagen den zunehmenden Antisemitismus: —
Das Jahr 1933
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Hitlerbegeisterung
+ Gedicht 21.03.1933: Käthe Kreienberg-Pätzold lebte in Reichensachsen, schrieb Gedichte, trat als Sängerin auf
+ Als Tag von Potsdam werden die Feierlichkeiten zur Eröffnung des Reichstages am 21. März 1933 bezeichnet, deren Höhepunkt ein Staatsakt in der Potsdamer Garnisonkirche war. Hitler in einer Reihe mit Friedrich dem Großen, Bismarck und Hindenburg!
+ Weihestunde an Hitlers Geburtstag: Kirchgang im „Eschweger Tagblatt“ vom 21.04.33
+ Weitere Feiern in Wanfried, Waldkappel, Reichensachsen, Wichmannshausen, Hoheneiche, Völkershausen, Alberode
+ Gleichschaltung der Presse: 4. Oktober 1933 Juden dürfen keine Schriftleiter bei Zeitungen und Zeitschriften mehr sein.
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Die Beseitigung rechtlicher Schranken
Joseph Walk (Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat): Mehr als 2.000 diskriminierende Bestimmungen bis hin zur völligen Rechtlosigkeit.
+ 28.02.1933 Verfassung wird in wesentlichen Teilen außer Kraft gesetzt § 1 (Grundrechte)
+ 24.03.33 „Ermächtigungsgesetz“ Art. 1: Ausschaltung des Parlaments
+ 07.04.33 Beamte nicht arischer Abstammung § 3 Abs. 1; Einschüchterung der Beamtenschaft § 4
+ Führer- und Gefolgschaftsprinzip
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Die Gleichschaltung der Vereine
+ April 1933: Juden werden von Sport- und Turnvereinen ausgeschlossen.
+ ETSV 1861 als Beispiel: In der Vorstandssitzung vom 30. Mai 1933 wurde beschlossen, dass sich die jüdischen Mitglieder abzumelden hätten. Auf der nächsten Vorstandssitzung am 26. Juni wurde dann bestimmt, dass alle Mitglieder, die sich bis dahin nicht abgemeldet haben, sich als ausgeschlossen betrachten müssen. 1932 hatte der Verein 436 Mitglieder, davon waren 16 Juden. Von den insgesamt 29 Ehrenmitgliedern waren 5 Juden. Im Vereinsbuch von 1933/34 sind die Namen aller Mitglieder und Ehrenmitglieder jüdischen Glaubens durchgestrichen.
+ Namen der im 1. Weltkrieg gefallenen jüdischen Turnbrüder herausgemeißelt.
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Die Gleichschaltung der Schulen
Ziel der Nationalsozialisten war es von Anfang an, die Schulen in den Griff zu bekommen. Denn dort bot sich die Möglichkeit zur Indoktrination von Kindern und Jugendlichen.
+ 01.04.32 Schreiben von Julius Löwenthal (Vorstand der Firma Brinkmann) an den Schulleiter der Friedrich-Wilhelm-Schule bezüglich seines Sohnes Carl Werner
+ 1933 an der FWS noch 26 jüdische Schüler; bis Ende 1935 alle ausgeschieden
+ 1933 müssen alle Lehrer ihre arische Herkunft belegen; der Schulleiter Dr. Otto Hoffmann wird am 26.03.33 beurlaubt, wohl wegen seiner Sympathie für die SPD
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Die Okkupation des öffentlichen Raumes
+ Antrag von 30 Bürgern der Forstgasse an die Stadtverordnetenversammlung, die eine Umbenennung ihrer Straße in Horst-Wessel-Straße fordern
+ Umzüge und Machtdemonstrationen
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Der Boykott jüdischer Geschäfte
+ Für den 1.4.1933 hatte der Propagandaminister Goebbels zu einem „Juden-Boykott“ aufgerufen, „um der antideutschen Greuelhetze des Weltjudentums“ eine Antwort zu erteilen.
Als Einleitung der „Abwehrmaßnahmen“ fand in Eschwege am Vorabend ein Propagandamarsch der SA und der Hitlerjugend durch die Hauptgeschäftsstraßen statt. Dem Zuge wurden Tafeln mit der Aufschrift „Wer beim Juden kauft, übt Verrat am deutschen Volk!“ vorangetragen. Eine Standartenkapelle begleitete den Zug mit Marschmusik.
+ Am 1. April 1933 öffneten in Eschwege nur wenige jüdische Geschäfte. Um 10 Uhr erschienen SA-Wachen und beklebten die Schaufenster mit Plakaten wie „Betreten verboten“, „Achtung Jude“ und anderen Beschriftungen. Während des ganzen Tages waren SA und Schutzpolizei am Stad. Werbung für jüdische Geschäfte verschwand allmählich aus dem „Eschweger Tageblatt“. Bei einigen Unternehmen führte der Boykott zur frühzeitigen Geschäftsaufgabe.
Eine Eschwegerin erzählt, daß sie von dem auf dem Marktplatz von SA-Leuten aufgestellten Pferch noch mehr beeindruckt war als von den anderen Maßnahmen. Hieß es doch, jedermann, der bei Juden kauft, wird in diesen Pferch eingesperrt! Und wer will sich schon öffentlich an den Pranger stellen lassen? … Eine andere Eschwegerin berichtete: „Ich gebe ehrlich zu, daß ich damals, und auch ein großer Teil meiner Bekannten, der Meinung waren, daß die Juden, die sich in Eschwege so breit gemacht haben, aus dem Geschäftsleben zurückgedrängt werden sollten. Sie waren doch eine übermächtige Konkurrenz für uns, … persönlich wollten wir ihnen nicht schaden und was dann später mit ihnen passiert ist, haben wir nicht gewollt.“
(Anna Maria Zimmer)
+ Der Jude Robert Löwenstein (* 23.01.1889 in Wanfried, + 1942 KZ Riga-Kaiserwald) beschrieb die Situation mit den Worten: „Der Boykott in Wanfried ist so scharf, dass Wanfrieder Einwohner aus Verschüchterung nur in ganz seltenen Fällen bei uns zu kaufen wagen. Wenn jemand zu kaufen wagt, so vorwiegend durch Mittelsmänner. Wir tragen uns alle mit dem Gedanken, Wanfried zu verlassen.“
Jüdische Ärzte und Juristen
+ Emma Stern mit ihren Söhnen Otto und Carl (rechts). Carl * 1883. Vater Sanitätsrat Dr. Moritz Stern. Promotion über die Rolle des Fürsorgewesens bei der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Praxis „An den Anlagen 14a“ (Heute Kirchenkreisamt). Nach der Machtergreifung 1933 besetzte die SA das Haus. Im Frühjahr 1933 Übersiedlung nach Hamburg. 1935 Beschuldigungen aus Eschwege wegen Pfuscherei, illegaler Abtreibung und Rassenschande (vh. mit Clara Schultz, ev.). Suizid mit Cyankali im Amtsgericht Hamburg-Blankenese.
+ Dr. jur. Siegmund Doernberg (1880-?) war ein gebürtiger Eschweger, hatte in Rostock promoviert. Er wurde 1906 als Rechtsanwalt beim Amtsgericht Eschwege zugelassen, 1920 zum Notar bestellt und 1928 auch am Landgericht Kassel zugelassen. Seine Kanzlei befand sich in Eschwege in der Reichensächser Str. 6.1938 musste er seine Tätigkeit aufgeben und wurde einige Wochen im KZ Buchenwald interniert. Im Mai 1939 gelang ihm mit seiner Familie die Flucht nach Chile.
„Schutzhaft“
Ein besonderes Mittel der Einschüchterung von Regime-Gegnern war die sogenannte „Schutzhaft“. Dabei ging es nicht um „Schutz“, sondern um Einschüchterung. Regime-Gegner wurden von SA-Leuten inhaftiert, ohne dass dies einer richterlichen Kontrolle unterlag.
+ In Herleshausen werden am 19. März 1933 der Kaufmann Julius Neuhaus und dessen Vater Bernhard, der Viehändler Nathan Ochs und der Getreidehändler Josef Katzenstein in „Schutzhaft“ genommen und nach Eschwege gebracht. Alle vier Männer waren Juden. Der NSDAP-Kreisleiter schrieb an den Landrat, das sich die vier „durch Unterstützung staatsfeindlicher Organisationen den Zorn der deutsch denkenden Bevölkerung in einem derartigen Maße zugezogen haben, dass sofortige Schutzhaft angebracht sei, bis die Erregung sich gelegt hat. Die Beschuldigten hätten noch vor einiger Zeit thüringische Reichsbanner <Mitglieder des Eisenacher „Kampfbundes gegen den Faschismus“> zur Sprengung nationaler Versammlungen herbeigeholt, bezahlt und verpflegt.
+ Der Chefarzt des Eschweger Krankenhauses Dr. Kurt Stück schrieb im Rückblick auf das Jahr 1933: „Unser Gewissen wurde sehr bald nach dem Regierungswechsel erheblich strapaziert, als immer mehr jüdische Mitbürger von SA-Männern in ihren Wohnungen misshandelt wurden, was vor allem den alten Leuten schlecht bekam. … Wir hatten den Eindruck, dass unsere Beschwerden nicht fruchteten und dass die Straftaten nicht energisch verfolgt wurden. Sehr bald wurden sie unter dem weiten Mantel einer Amnestie exculpiert …“.
Nie wieder!
+ Die Ausgrenzung und Entrechtung der Jüdinnen und Juden fand nach 1945 zunächst wenig Beachtung. Erst ein von Annamaria Zimmer im Jahr 1989 organisiertes Treffen ehemaliger jüdischer Bürgerinnen und Bürger in Eschwege führte zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema. Inzwischen sind die jüdische Regionalgeschichte und insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus gut erforscht. Zahlreiche wissenschaftliche Beiträge liegen vor. „Stolpersteine“ erinnern in einige Orten an die jüdischen Opfer des Holocaust. Der im Jahr 2019 gegründete Verein der „Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens im Werra-Meißner-Kreis“ hat in der ehemaligen Synagoge in Abterode einen Lern- und Gedenkort für jüdisches Leben eingerichtet.
+ Treffen 1989; Stolpersteine ESW, Herleshausen, Harmuthsachsen; Koffer am Bahnhof erinnert an Deportationen; virtueller Stadtrundgang von Paul Hartmann (http://karls-eschwege.de/home/html/index.html)
+ Besondere wissenschaftliche Beiträge: Weitere Arbeit nötig! Schulen, junge Menschen! Die Erinnerung an das Jahr 1933 sollte dazu beitragen, dass sich solche Entwicklungen nie mehr wiederholen!
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