Verein für Jüdisches Leben in der Region und Schulen setzen Zeichen gegen Antisemitismus
Gemeinsam mit fünf großen Schulen im Kreisgebiet veranstaltet der Verein der Freundinnen und Freunde Jüdischen Lebens in der Region Werra-Meissner vor dem Hintergrund des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ in diesem Herbst eine Reihe von Projekttagen für Schülerinnen und Schüler. Eines der wichtigsten Ziele hierbei ist es, Lernenden in der persönlichen Begegnung mit Juden und Jüdinnen Einblicke in die vielfältige Kultur gegenwärtigen jüdischen Lebens in Deutschland zu ermöglichen und damit Antisemitismus entgegenzuwirken.
Der erste Projekttag fand jetzt an der Anne-Frank-Schule in Eschwege statt. Weitere folgen an der Brüder-Grimm-Schule Eschwege, der Adam-von-Trott-Schule-Sontra, der Johannisberg-Schule Witzenhausen sowie der Rhenanus-Schule in Bad Sooden-Allendorf. Der Verein der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens in der Region Werra-Meissner ist mit dem Angebot, einen Projekttag zu veranstalten, auf gerade diese Schulen zugegangen, weil sie zuvor alle bereits die Zusammenarbeit gesucht hatten. Sie haben etwa Lerngruppen in die Synagoge entsendet, Experten aus dem Verein in den Unterricht eingeladen oder gemeinsame Projekte initiiert, um die Auseinandersetzung mit jüdischem Leben, jüdischer Kultur und jüdischer Geschichte in verschiedenen, auch fachübergreifenden Lernvorhaben zu bereichern. Für die Umsetzung des Projekttages an den Schulen im Werra-Meissner-Kreis hat der Vorstand wiederum bei der Initiative „1700 Jahre Jüdisches Leben“ Fördergelder beantragt.
Mit den Veranstaltungen soll aus Sicht des Vereins Folgendes erreicht werden:
„Schülerinnen und Schülern sollen Zugänge eröffnet werden zu jüdischer Kultur sowie zu lokaler und regionaler jüdischer Geschichte. Das Judentum soll als vielfältige lebendige Kultur in unserer Gesellschaft erlebbar werden. Im Gespräch mit Juden soll es um die Frage gehen, wie Jüdinnen und Juden heute in unserer Gesellschaft leben. Mit einem vertieften Wissen über die jüdische Kultur und durch die Begegnung mit Juden soll dem Antisemitismus entgegengewirkt werden.“
Jede Schule hat für den Projekttag ein eigenes Programm zusammengestellt, es sind Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 8 bis 10 dabei. Sie erhalten Gelegenheit, mit Jüdinnen und Juden aus der jüdischen Gemeinde in Felsberg direkt ins Gespräch zu kommen, außerdem bietet der bekannte jüdische Rapper Ben Salomo an einigen Schulen verschiedene Workshops zu jüdischer Rap-Musik und Antisemitismus an. Er performt auch einige seiner Songs für die Jugendlichen. Verschiedene lokalgeschichtliche Workshops zum jüdischen Leben in Eschwege, Witzenhausen und Bad Sooden-Allendorf mit den Vereinsmitgliedern Annamaria Zimmer und Dr. Martin Arnold bereichern das Angebot ebenfalls. Zudem bereiten die Schülerinnen und Schüler in der Schulküche mit Sabine Knappe jüdische Speisen zu und beschäftigen sich mit deren Ursprung und Bedeutung im Judentum.
Mit Julio Rosenblatt wird in Sontra ein Nachfahre einer jüdischen Familie aus Beiseförth erwartet. Die Familie konnte während der NS-Zeit noch rechtzeitig aus Deutschland nach Uruguay fliehen. Dort lebt Julio Rosenblatt heute noch. Er wird mit den Schülerinnen und Schülern über die Fluchterfahrungen, den Umgang damit und sein gegenwärtiges Leben als Jude in Südamerika ins Gespräch kommen.
Natürlich gehören auch die Vor- und Nachbereitung des Projekttages zu den Aufgaben der Schulen. Diese erfolgt jeweils im Unterricht. Auch eine Reflexion gehört unbedingt dazu. Geplant sind nach dem jeweiligen Projekttag zudem weitere Veranstaltungen mit dem Verein für Jüdisches Leben in der Region, die in besonderer Weise an den sich aus den Erkenntnissen des Projekttages ergebenden Interessen und Fragen der Schülerinnen und Schüler orientiert sein werden.
Zum Auftakt der Veranstaltungsreihe an der Anne-Frank-Schule in Eschwege gab es zunächst eine offizielle Begrüßung in besonderer Runde: Landrat Stefan Reuß, Karsten Vollmar vom Staatlichen Schulamt, Frederic Willing von der jüdischen Gemeinde in Felsberg, der jüdische Rapper Ben Salomo, Dr. Martin Arnold, Ludger Arnold und Annamaria Zimmer vom Verein für Jüdisches Leben in der Region sowie die Schulleitungen aller teilnehmenden Schulen, Kerstin Ihde (Anne-Frank-Schule Eschwege und Wanfried), Ute Walter (Brüder-Grimm-Schule Eschwege), Susanne Herrmann-Borchert (Adam-von-Trott-Schule Sontra), Dr. Jörg Möller (Rhenanus-Schule Bad Sooden-Allendorf) und Andreas Hilmes (Johannisberg-Schule Witzenhausen) kamen zusammen, um die Projekttage gemeinsam zu eröffnen. Dabei machte Schulleiterin Kerstin Ihde deutlich, dass die Anne-Frank-Schule stolz und dankbar sei, einen solch außergewöhnlichen Projekttag für die Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 8 und 9 anbieten zu können.
„Wir wollen unseren Lernenden heute die Möglichkeit geben, Menschen jüdischen Glaubens persönlich zu begegnen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen“, sagte sie, „für uns als Schule, die nach einem jüdischen Mädchen, das Opfer der Nazis wurde, benannt ist, ist das eine besondere Verpflichtung.“ Der Vorsitzende des Vereins der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens in der Region, Dr. Martin Arnold, machte deutlich, dass er sich von der Veranstaltungsreihe vor allem erhoffe, dass die Jugendlichen vertiefte Einblicke in die jüdische Geschichte, Kultur und Religion erhielten und damit ein Impuls gegen Antisemitismus gesetzt werde. Das unterstrich auch Landrat Stefan Reuß, der allen teilnehmenden Schulen und dem Verein seinen Dank für den Einsatz gegen Hass, Ausgrenzung und Diskriminierung aussprach. „Leider müssen wir beobachten, dass es in unserem Land wieder vermehrt zu antisemitischen Vorfällen kommt und es ist von besonderer Bedeutung, dass wir gemeinsam ein Zeichen setzen: Unser Kreis steht für Offenheit und Toleranz.“ Karsten Vollmar vom Staatlichen Schulamt in Bebra brachte den Initiatoren der Veranstaltungsreihe ebenfalls seine Anerkennung und Unterstützung entgegen: „Dass Menschen jüdischen Glaubens den Schülerinnen und Schülern individuelle Einblicke in die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland geben, trägt dazu bei, Vorurteile abzubauen und Stereotypen aufzubrechen. Die Projekttage stellen da zweifelsohne ein bedeutsames Angebot dar und ich bin mir sicher, dass die beteiligten Schülerinnen und Schüler viel lernen werden.“
Damit sollte Karsten Vollmar genau richtig liegen, wie sich schon während der ersten Workshops herausstellte: Der jüdische Rapper Ben Salomo übernahm den Auftakt des Projekttages in der Eingangshalle. Er erzählte von seiner Kindheit in Berlin, wo er schon früh erlebte, was Antisemitismus bedeutet: Als sein bester Freund erfuhr, dass er Jude ist, griff dieser ihn an, die Freundschaft zerbrach. „Als ich fragte, warum er was gegen Juden hat, konnte er mir keine wirkliche Antwort geben“, so Ben Salomo vor den interessiert zuhörenden Acht- und Neuntklässlern. Zeitweise leugnete Ben Salomo, der eigentlich Jonathan Kalmanovich heißt, sogar seinen jüdischen Glauben. Das belastete ihn aber zu sehr, so dass er schließlich in die Offensive ging und beschloss, zu seinem Judentum zu stehen. So sei er nun auch an Schulen in Deutschland unterwegs, um von seinen Erfahrungen und von seinem Leben als jüdischer Rapper in Deutschland zu erzählen. Gerade der Rap habe ein strukturelles Problem mit Antisemitismus. Es gehe nicht um einzelne Rapper, es handele sich um ein breites Phänomen. Er spielte dann verschiedene Clips anderer Künstler ein, um die Schülerinnen und Schüler für versteckte, aber teilweise auch offene antisemitische Codes in Songs und Videos seiner Rap-Kollegen zu sensibilisieren und ihnen bewusst zu machen, wie wichtig es ist, sich wirklich damit zu beschäftigen, was man sich anhört und ansieht. Er selbst performte ebenfalls einige seiner Songs, die von seinem Glauben und seinem Leben als Jude in Deutschland erzählen.
Im Workshop „Fragen an einen Juden“ beantwortete Frederic Willing von der jüdischen Gemeinde in Felsberg derweil im direkten Gespräch ganz unterschiedliche Fragen zu seinem Leben und zu seinem Glauben. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich gut auf die Begegnung vorbereitet. Sie wollten etwa wissen, ob Frederic Willing schon einmal selbst antisemitische Übergriffe erlebt habe, ob er offen zu seinem Glauben steht oder wie dieser sich auf die Gestaltung seines Alltags auswirkt. „Ich bevorzuge ein freies Verständnis des Judentums“, sagte Willing, „bei uns in der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Felsberg haben Frauen und Männer zum Beispiel die gleichen Rechte.“
In der Schulküche bereiteten Schülerinnen und Schüler mit Food-Journalistin Sabine Knappe eine besondere jüdische Speise zu: Charosset ist ein süßes Fruchtmus, das zum Pessach-Fest gereicht wird. Äpfel, Nüsse und Mandeln werden mit Honig und Saft vermischt und mit Zimt und Zucker verfeinert. „Diese Speise gehört zum Sedermahl, mit dem das Pessachfest beginnt“, erklärte Sabine Knappe den Schülerinnen und Schülern, „mit seiner Farbe und Konsistenz erinnert Charosset symbolisch an Lehm, aus dem die Israeliten in Ägypten Ziegelsteine herstellten.“ „Ganz schön lecker, unser Lehm“, befanden die Lernenden augenzwinkernd beim Probieren des Fruchtmuses, das sie auf Matzen gestrichen hatten.
Um die jüdische Kultur und wie sie in Eschwege gelebt wurde und gelebt wird, ging es im Workshop von Annamaria Zimmer. Sie ist Mitglied im Vorstand des Vereins der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens in der Region und Expertin für die jüdische Gemeinde der Kreisstadt. Sie berichtete den Jugendlichen von der Zeit vor dem Nationalsozialismus, als die Mitglieder der jüdischen Gemeinde voll integrierte und angesehene Bürgerinnen und Bürger der Eschweger Stadtgesellschaft waren und erklärte auch, wie sich das Leben der jüdischen Menschen aus der Region ab 1933 wandelte, wie sie schrittweise entrechtet und schließlich verfolgt und ermordet wurden, wenn ihnen zuvor nicht die Flucht aus Deutschland geglückt war. Ausführlich schilderte sie die Deportationen der letzten in Eschwege verbliebenen Juden in den Jahren 1941/42, an die ein Bronzekoffer am Eschweger Stadtbahnhof erinnert. Auch auf das Schicksal verschiedener jüdischer Kinder aus der Region ging sie beispielhaft ein. Schließlich berichtete sie davon, dass es auch heute einige Juden in Eschwege gebe, die ihren Glauben aber nicht immer offen zeigten.
Zum Abschlussplenum, das mit Ludger Arnold ein weiteres Vorstandsmitglied des Vereins der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens in der Region gemeinsam mit Joachim Geiger von der Friedrich-Naumann-Stiftung moderierte, formulierten die Jugendlichen dann, was sie aus dem Projekttag mitnehmen werden: „Mir war nicht klar, dass ich auch schon Songs gehört habe, in denen jüdische Menschen diffamiert werden“, so eine Aussage aus den Reihen der Schülerinnen und Schüler, „ich werde mich damit auf jeden Fall weiter auseinandersetzen.“ „Es war sehr spannend, zu erfahren, wie es ist, heute als Jude in Deutschland zu leben“, sagte ein anderer Schüler, „ich konnte mir das gar nicht vorstellen, weil ich gar keinen Juden kennen.“
Diese Aussage griff der Rapper Ben Salomo schließlich für sein abschließendes Statement auf: „Der Grund, warum so wenige einen Juden oder eine Jüdin kennen, ist, dass es nur rund 200 000 in Deutschland davon gibt“, sagte er, „das sind nicht viele.“ Es sei also umso wichtiger, sich zu Wort zu melden und Juden zu helfen, wenn diese angegriffen oder beschimpft würden: „Lasst uns gemeinsam gegen Antisemitismus, gegen jegliche Form von Rassismus, Ausgrenzung und Hass kämpfen.“
Melanie Salewski