Vom Unvorstellbaren erzählen
Abterode – Als sie in die Güterwaggons gen Osten steigen mussten, waren sie ihrer bürgerlichen Existenz bereits beraubt: Doch auf die 163 jüdischen Frauen, Männer und Kinder, die am 9. Dezember 1941 von den Nazis aus den Landkreisen Eschwege und Witzenhausen über Kassel in das Ghetto nach Riga gebracht wurden, wartete nach dem Verlust ihres gesamten Hab und Guts, ihres Zuhauses, ja ihrer Identität, das Unvorstellbare.
Mit der Ankunft in der von deutschen Truppen besetzten lettischen Stadt begann für sie alle ein im höchsten Maße grausamer, menschenverachtender Leidensweg, den nur drei der Deportierten überleben sollten.
Genau diesem Thema widmete sich jetzt eine Veranstaltung des Vereins der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens Werra-Meißner in der Synagoge in Abterode. Vorsitzender Dr. Martin Arnold und Vereinsmitglied Laura Wallmann führten die Teilnehmenden mit Daten und Fakten aus der Region fachkundig in den historischen Kontext der Deportationen ein und zeigten dann Ausschnitte aus der Riga-Dokumentation „Wir haben es doch erlebt“ von Filmemacher Jürgen Hobrecht.
Darin berichten Zeitzeugen vom Leben im Ghetto und vom Überleben mit dem Trauma. Zu Wort kommt auch Marga Steinhardt, die als 17-Jährige laut NS-Anordnung gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder aus Witzenhausen zum Arbeitseinsatz nach Riga „evakuiert“ wurde – eine zynische Umschreibung für die systematische Ausbeutung und Ermordung der jüdischen Menschen.
„Ich musste einfach überleben, um zu erzählen, was damals geschehen ist“, so Marga Steinhardt, „ich wusste, dass die Vorstellungskraft der Menschen nicht ausreichen würde, um diese schrecklichen Verbrechen auch nur erahnen zu können.“
Was sie und die anderen Überlebenden zu berichten haben, ist wie so viele Schilderungen der Gräueltaten der Nationalsozialisten tatsächlich einfach nur unfassbar: Sie erzählen etwa davon, wie die SS innerhalb von zwei Tagen fast 27 000 lettische Jüdinnen und Juden erschoss, um für die Ankunft der Juden aus Deutschland Platz im Ghetto zu schaffen: „Die Menschen wurden eilig aus den Häusern getrieben, teilweise waren die Tische noch gedeckt, die Gabeln steckten noch in den Kartoffeln“, erinnert sich Marga Steinhardt, „der Boden im Ghetto war bedeckt mit rot gefrorenem Eis.“
Kaum angekommen, wurden die „brauchbaren“ Menschen in Arbeitskommandos eingeteilt, mussten etwa in bitterer Kälte stundenlang Torf stechen oder Schnee schaufeln und Eis hacken, um die Straßen für die SS freizuhalten. Außerdem wurden die Jüdinnen und Juden in den in Riga ansässigen Institutionen der Wehrmacht und der Waffen-SS eingesetzt, packten Transporte mit Nahrung oder Kleidung für die Soldaten. „Dabei hielten uns stets SS-Leute ihre Maschinengewehre unter die Nase und drohten uns damit, uns beim kleinsten Vergehen einfach zu erschießen“, so Marga Steinhardt.
Die Abschreckung spielte im Ghetto eine große Rolle, auf dem sogenannten Blechplatz, auf dem die Kommandos sich zum Appell zusammenzufinden hatten, wurden Menschen, die aus Sicht der Nazis etwas verbrochen hatten, am Galgen hingerichtet oder erschossen – und alle mussten dabei zusehen. „Manchmal hingen die Menschen da mehrere Tage“, erzählt Marga Steinhardt im Film.
Das Ghetto konnte gleichzeitig teilweise in jüdischer Selbstverwaltung geführt werden, ein Ältestenrat bemühte sich um die Verteilung von Lebensmitteln und Wohnraum, organisierte sogar Schulunterricht für die Kinder und auch ein minimales kulturelles Leben war möglich. Ab März 1942 änderte sich die Vorgehensweise der Nazis, immer mehr Juden und Jüdinnen wurden in den nahe gelegenen Wald transportiert und dort erschossen, insgesamt über 35 000 Menschen wurden in Massengräbern verscharrt, die sie vor ihrer Tötung teilweise selbst ausheben mussten.
1943 wurde die Auflösung der Ghettos angeordnet und die Deportation in Konzentrationslager begann. Der Albtraum setzte sich für all jene, die bisher irgendwie noch am Leben geblieben waren, fort. „Gott sei Dank haben einige Menschen den Holocaust überlebt und uns von den Geschehnissen berichtet“, so Dr. Martin Arnold nach dem Film, „unser Verein möchte dazu beitragen, die Erinnerung wachzuhalten und gleichzeitig den Respekt vor dem Judentum stärken.“ Es sei sehr traurig, dass auch heute noch Judenhass existiere und sich sogar wieder steigere, und das in vielen unterschiedlichen Formen.
Melanie Salewski
Werra-Rundschau, 11. Dezember 2023