Sensibel erinnern und für die Zukunft lernen

Ethik-Schüler:innen erkunden den Lern- und Gedenkort Synagoge Abterode

In der Synagoge Abterode. Foto: Martin Arnold

Eine spannende Reise durch die großen Religionen und Glaubensrichtungen erleben derzeit die Schülerinnen und Schüler des Ethikunterrichts im 4. Jahrgang. Eine wichtige Station führte sie an den Lern- und Gedenkort in der Synagoge Abterode, um dort die Geschichte und Gegenwart des Judentums zu erkunden.

Fasziniert bewegten sich die Kinder mit VR-Brillen durch die virtuellen Räume der Eschweger Synagoge, die anhand von Fotodokumenten digital rekonstruiert wurden. Dabei ließen sie sich schnell von den Erzählungen von Dr. Martin Arnold und Arnold Baier fesseln, die die Kinder an diesen besonderen Lernort eingeladen hatten. Was sie dort gemeinsam mit ihrem Ethiklehrer Herrn Beyer und ihrer Lehrerin Frau Kämmer entdecken konnten, war weit mehr als historisches Wissen.

Die ehemalige Synagoge, ein Ort des Gebets und der Gemeinschaft für jüdische Menschen, erstrahlt heute in einem anderen Licht: Sie beherbergt einen Supermarkt. Dieser Wandel wirft Fragen auf, die die Kinder zum Nachdenken anregen: Warum wurde aus einem Ort des Glaubens ein Geschäft? Wie würden wir reagieren, wenn heute eine Kirche in einen Discounter umgewandelt würde?

Und weiter: Wo sind eigentlich die Jüdinnen und Juden von Abterode geblieben? Warum wurde die Synagoge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstört? Warum wurde sie später als Düngemittellager genutzt? Die Schülerinnen und Schüler erfuhren von Dr. Martin Arnold und Arnold Baier, wie die Synagoge während der NS-Zeit zweckentfremdet wurde. Die jüdischen Gemeinden wurden ausgelöscht, ihre Synagogen geschändet und für profane Zwecke genutzt. Diese Fragen und Antworten weisen bereits auf eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte hin.

Im Ethik-Unterricht sollen die Kinder verstehen lernen, was in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist – und was getan werden muss, damit sich solche Tragödien nicht wiederholen. Grundschulkindern eine erste Begegnung mit den Geschehnissen der Nazi-Zeit zu ermöglichen, erfordert Fingerspitzengefühl und soll vor allem in der Absicht geschehen, die Kinder zukunftsgerichtet in ihrer Handlungsfähigkeit gegen Antijudaismus, religiösen Hass und Rassismus zu stärken.

Einen kindgerechten Zugang bietet die Erzählung der Esther-Geschichte, die sich in der Zeit des Persischen Reiches (heute: Iran) zugetragen haben soll und auch in der Gegenwart noch am jüdischen Purimfest gefeiert wird. In ihr gelingt die entscheidende Wende: Ein Pogrom wird verhindert! Das erfordert Mut, Entscheidungskraft und Durchsetzungsvermögen – Eigenschaften, die die Kinder den einzelnen Protagonist:innen der Esther-Geschichte begründet zuordnen konnten. Die Geschichte erinnert daran, dass es gelingen kann, sich gegen Unrecht zu wehren. Die Kinder durften das Ritual dieses Festes aktiv nachahmen, um das Überwinden von Bedrohungen zu erleben und – ausgestattet mit lauten Rasseln – Lärm gegen Unterdrückung und Judenhass zu machen.

Die Schülerinnen und Schüler am Stadtbahnhof in Eschwege

Nächste Station der Exkursion war der Eschweger Stadtbahnhof, an dem Spuren des Judentums nicht auf den ersten Blick sichtbar sind – bis man auf einen Bronzekoffer stößt. Der Koffer steht dort als stummes Zeugnis der Deportation der letzten jüdischen Bewohner:innen aus Eschwege. Die Kinder lasen die Namen auf dem Koffer und erkannten, dass auch Gleichaltrige in diesen “Sonderzug in den Tod” steigen mussten. Später wurden die jüdischen Menschen ihrer Namen beraubt und galten fortan nur noch als “eine Nummer”. Diese Erkenntnis berührte einige Kinder des Ethik-Kurses tief. Das Niederlegen der Steine wurde als Zeichen des Gedenkens an die Schicksale und die Grausamkeit der Shoah verstanden.

Foto: Anja Kämmer

Der Besuch des Lern- und Gedenkortes in der Synagoge Abterode war somit nicht nur eine historische Exkursion, sondern auch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer reflektierten und verantwortungsbewussten Gesellschaft. Im Ethik-Kurs begegnen sich seit nunmehr dreieinhalb Jahren Kinder unterschiedlicher Konfessionen und aus verschiedenen Kulturen. Durch die Förderung einer offenen Diskussionskultur im Ethik-Unterricht werden sie ermutigt, sich aktiv für eine Welt einzusetzen, in der Vielfalt und Toleranz gelebt werden. In diesem Rahmen erkunden sie im Anschluss an die sogenannten Weltreligionen das Themenfeld Frieden und Krieg.

Wir danken Dr. Martin Arnold und Arnold Baier vom Lern- und Gedenkort Synagoge für ihr besonderes Engagement und freuen uns auf ein baldiges Wiedersehen.

Gustav Beyer