13 weitere „Stolpersteine“ in Eschwege verlegt
In Erinnerung an die jüdischen Familien Katzenstein, Löwenthal und Werner wurden in Eschwege 13 weitere „Stolpersteine“ verlegt. Die Gedenkveranstaltung fand auf Einladung der Sparkasse Werra-Meißner statt. Neben dem Sparkassenvorstand wirkten auch Landrätin Nicole Rathgeber, der Eschweger Stadtrat Siegfried Fiegenbaum sowie Schülerinnen und Schüler der Brüder-Grimm-Schule, der Anne-Frank-Schule und der Friedrich-Wilhelm-Schule mit. Der Historiker Dr. Dieter Vaupel hielt eine Rede, die wir nachfolgend dokumentieren:
Eschwege hatte im Jahr 1933 rund 15.000 Einwohner, mehr als 700 davon waren Jüdinnen und Juden. Jüdisches Leben hatte eine lange Tradition. Bereits seit mehr als 650 Jahren lassen sich Spuren jüdischen Lebens hier nachweisen. Vor über 300 Jahren wurde der Grundstein für die erste Synagoge gelegt. Bis vor gut 90 Jahren war das Leben zwischen Christen und Juden in Eschwege geprägt durch ein friedliches Miteinander. Ob in der Feuerwehr, in den Turn- und Sportvereinen oder im Werratalverein, überall fand man christiliche und jüdische Aktive, auch in den Vorständen. Ein Judenviertel gab es nicht, man wohnte Tür an Tür in friedlicher Nachbarschaft nebeneinander. Es gab, neben vielen kleinen Geschäften, große jüdische Unternehmen in der Stadt in denen hauptsächlich Christen beschäftigt waren. Die größte Firma war L.S. Brinkmann, um die es heute noch gehen wird, mit allein 500 Arbeitern und Angestellten.
Doch als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 nach der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler in Deutschland die Macht übernahmen, war es vorbei mit dem friedlichen Miteinander. Es folgte der schrittweise Umbau der Weimarer Demokratie in eine Diktatur. Politische Gegner wurden verfolgt und die jüdische Bevölkerung ausgegrenzt. Der Boykott jüdischer Geschäfte ab dem 1. April 1933 raubte auch den Eschweger Juden die wirtschaftliche Grundlage, durch die Nürnberger Gesetze wurden sie zu Bürgern zweiter Klasse. Judenhass, Diskriminierungen und Übergriffe, wie die vom 8. November 1938, machten das Leben in der Kleinstadt zur Hölle.
Nicht nur NSDAP und SA, auch viele Eschweger Bürger waren daran beteiligt. Auch die Kreissparkasse, deren Geschichte während der NS-Zeit ich im Auftrag der heutigen Sparkasse Werra-Meißner untersucht habe und von der die heutige Stolpersteinverlegung initiiert wurde, gehörte zu den Institutionen die eng mit dem NS-System verbunden waren und die zur Ausgrenzung und Existenzvernichtung der Juden beitrugen.
Von den ehemals 750 Juden des Ortes wurden mehr als 250 in die Vernichtungslager des Ostens deportiert und fast alle dort ermordet. Wer die Gefahr rechtzeitig erkannte, ergriff die Flucht aus Deutschland – die einzige Chance, den Holocaust zu überleben. 150 Stolpersteine sind zur Erinnerung an Jüdinnen und Juden, die ehemals ihren Lebensmittelpunkt in Eschwege hatten, von 2008 bis 2018 durch eine Initiative von Seiten der Stadt Eschwege, koordiniert durch die Stadtarchivare Dr. Karl Kollmann und York-Egbert König, verlegt worden. Weitere 17 sind im August dieses Jahres verlegt worden, heute kommen 13 Steine dazu. Und es wird weitergehen.
Wir setzen heute mit dieser Stolpersteinverlegung gemeinsam ein Zeichen des Gedenkens, der Erinnerung und des tiefen Respekts gegenüber diesen Menschen. Die Erinnerung an die während der NS-Zeit Vertriebenen und Verfolgten ist heute vielen Bürgerinnen und Bürgern angesichts des erstarkenden Rechtspopulismus besonders wichtig. Deportationsphantasien machen in rechten Kreisen schon wieder die Runde. Das zeigt, dass wir wachsam sein müssen, um die Errungenschaften unsere Demokratie zu verteidigen. Mir klingen Sätze der über 100-jährigen Holocaustüberlebenden Margot Friedländer im Ohr: „Ich hätte nie gedacht, dass es wieder so kommen würde. Denn so hat es ja damals auch angefangen. Wir sind die, die das erlebt haben. … Für uns ist es besonders schwer zu verstehen. Und sehr traurig.“
Mit dem Verlegen der Stolpersteine geben wir den Opfern wieder einen Namen und der Erinnerung an sie einen Ort. Das individuelle Schicksal wird so ins Zentrum gerückt. Es geht darum, jeden Einzelnen sichtbar zu machen, also jene Menschen, die hier in dieser Kleinstadt in enger Nachbarschaft mit den anderen Bürgerinnen und Bürgern lebten, die mit ihrer Heimat verbunden waren und die gerne hier gelebt haben – als Nachbarn, Freunde, Mütter, Väter, Kinder. Die Stolpersteine sind nicht nur Anlass zu mahnen, dass wir nie das vergessen dürfen, was damals geschah, sondern lassen uns auch mit unseren Gedanken über die Geschichte jedes einzelnen dieser Menschen „stolpern“. Indem Fragen nach unserem Umgang heute mit dieser Zeit aufgeworfen werden, schlagen Stolpersteine eine Brücke zur Gegenwart. Sie zeigen wohin Ausgrenzung und Intoleranz führen. Die Stolpersteine, die wir heute hier in Eschwege verlegen, fordern uns auf, für eine Zukunft einzutreten, in der solche Ver-brechen niemals wieder geschehen dürfen. Sie mahnen uns, dass wir uns für die Erhaltung demokratischer Werte in unserer Gesellschaft einsetzen.
Und noch einmal gebe ich Margot Friedlander zum Schluss das Wort: „Das darf nie wieder passieren, deshalb müssen wir jetzt wachsam sein und nicht wie damals weg-schauen. Hass, Rassismus, Antisemitismus dürfen nicht das letzte Wort der Geschichte sein. … Es ist wichtig für euch, für die Demokratie. Die Demokratie muss bleiben. Ihr müsst Menschen sein. Nichts weiter.“